Die Berufsbezeichnung „Übersetzer“ ist nicht geschützt. Es gibt zwar einen Studiengang mit entsprechendem Abschluss (früher Diplom, heute Bachelor/Master), aber im Grunde darf sich jeder, der es möchte, Übersetzer nennen. (Was unter anderem die Unmengen an katastrophalen bis unverständlichen Bedienungsanleitungen erklärt, die wir alle kennen und schon verflucht haben.) Wer es nicht besser weiß, könnte daraus jetzt schließen, dass Übersetzen eben nicht so schwierig sein kann und praktisch jeder, der zwei Sprachen spricht, auch übersetzen kann. Genau diese Einstellung führt wiederum zu selbsterklärten Übersetzern, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben und die oben erwähnten Bedienungsanleitungen produzieren… Denn in Wirklichkeit ist das ganz ganz anders. Wir Übersetzer sind nämlich wahre Tausendsassas, unser Beruf ist so komplex und vielseitig, dass bei genauem Hinsehen, wie in einer russischen Matroschka, viele, viele weitere Berufe zum Vorschein kommen.

1. Wir sind Aufklärer.
Viele Kunden, die eine Übersetzung brauchen, haben – woher auch? – keine Ahnung, wie lange eine Übersetzung dauert, wie viel sie kostet, welches Textformat der Übersetzer braucht und dass er Aufträge im seltensten Fall zusagen kann, ohne den konkreten Text gesehen zu haben, dass es für jede Textart spezialisierte Fachübersetzer gibt oder dass Referenzen und Glossare aus dem eigenen Unternehmen sich erheblich (und zwar positiv) auf die Qualität der Übersetzung auswirken. Nach einem Telefonat mit uns wissen sie das alles.

2. Wir sind Hellseher.
Nicht alle Texte, die man als Übersetzer bekommt, sind gut geschrieben, oft enthalten sie sogar Fehler. Solange Textverständnis und -sinn davon nicht beeinträchtigt werden, ist das kein Problem – aber was, wenn doch? Auf eine Rückfrage beim Kunden bekommt man schon einmal die Antwort: „wissen wir auch nicht, schreiben Sie, wie Sie denken“. Das ist der Zeitpunkt, zu dem wir Übersetzer unsere Kristallkugel aus der untersten Schreibtischschublade hervorkramen…

3. Wir sind Detektive.
Gerade als (z. B. technischer) Fachübersetzer stößt man immer wieder auf Fachbegriffe, die man zwar versteht, deren deutsche Entsprechung man aber (noch) nicht kennt. Das weckt den Spürsinn – die Suche geht los. Man schlägt in Fachwörterbüchern nach (heute in der Regel digital), durchsucht Glossare, die man gesammelt oder online gefunden hat, gräbt das Internet nach Dokumenten um, in denen genau dieser Begriff verwendet wird und fragt bei Kollegen oder Fachleuten aus dem jeweiligen Gebiet nach. Wahre Detektivarbeit!

4. Wir sind Redakteure und Schriftsteller.
Wir arbeiten zwar nach Vorlage, doch trotzdem unterschätzen die meisten die kreative Leistung, die zum Übersetzen notwendig ist. Einen Text Wort für Wort zu übersetzen  – das führt zu schlecht lesbaren, oft sogar unverständlichen Texten. Maschinen können nicht denken, nicht kreativ sein, haben keine Ansprüche – wir Menschen schon. Und deshalb kostet das Übersetzen uns Mühe: Wir formulieren sorgfältig und frei einen neuen Text, der den Sinn des Originals wiedergibt und dabei so klingt, als wäre er selber eines. Das gilt ganz besonders für Literaturübersetzer.

5. Wir sind Zauberer.
Manche Ausgangstexte sind nicht nur schlecht, sondern sehr schlecht geschrieben. Von uns Übersetzern wird aber erwartet, dass unser Text gut lesbar, gut verständlich und exzellent geschrieben ist. Gut, dass in der Schublade neben der Kristallkugel der Zauberstab liegt. Abra kadabra – und aus sch…lechten Texten wird Gold.

6. Wir sind Layouter.
Wer wie ich aus dem Englischen übersetzt, kennt das Problem – deutsche Texte sind immer länger. Das führt vor allem bei PowerPoint-Folien zu dem Problem, dass die Übersetzung oft aus den Textfeldern „herausrutscht“. Da heißt es dann Formulierungen kürzen oder Textfeld- bzw. Schriftgrößen ändern, bis es passt. „Schön“ ist auch, wenn man nicht editierbare PDF-Dateien übersetzen muss und alle Formatierungen, Briefköpfe, Tabellen, Gliederungen etc. sozusagen nachbasteln darf.

7. Wir sind Lektoren.
Als Übersetzer ist man häufig auch mit Korrekturlesen beschäftigt. Zum einen liest man seine eigenen Übersetzungen nochmals Korrektur, bevor sie zum Kunden herausgehen, zum anderen erhält man auch oft den Auftrag, die Übersetzung eines Kollegen zu überprüfen. Da heißt es dann: Inhalt auf korrekten Sinn und Vollständigkeit abgleichen, Rechtschreibung/Interpunktion prüfen, aber auch, den Text auf stilistische Feinheiten (Lesbarkeit, Ansprache des richtigen Zielpublikums, Idiomatik etc.) abzuklopfen.

8. Wir sind Software-Experten.
Man glaubt ja gar nicht, wie viele Möglichkeiten es gibt, Texte zu bearbeiten. Ja, manchmal tippen wir unseren Text auch in das gute alte Word-Dokument. Doch manche Übersetzer tippen schon gar nicht mehr, sondern diktieren  – die Software Dragon Naturally Speaking macht es möglich. Andere arbeiten mit sogenannten CAT-Tools (das sind nicht nur die von Übersetzern gerne gehaltenen Katzen, die gerne über die Tastatur schleichen, sondern im Sinne der Computer Aided Translation spezielle Übersetzungsumgebungen). Davon gibt es ziemlich viele, manche Kunden haben sogar ihre eigenen. Sich schnell einarbeiten zu können, wird vorausgesetzt.

9. Wir sind Jongleure.
Es ist erstaunlich, wie viele Kunden vor Weihnachten plötzlich Texte finden, die übersetzt werden müssen. Was dazu führt, dass im Dezember praktisch alle Übersetzer überlastet sind. Wir jonglieren mit den Lieferterminen, quetschen für unsere Lieblingskunden immer noch mal ein paar Aufträge dazwischen, verzichten auf Schlaf, um alles fertigzubekommen, wünschen uns eine dritte Hand, um schneller tippen zu können und holen frühstens an den Feiertagen wieder Luft.

10. Wir sind unsere eigene Marketingabteilung.
Als Freiberufler müssen wir nicht nur Aufträge akquirieren und erstklassige Leistungen abliefern, sondern auch immer wieder die Werbetrommel für uns selbst rühren. Zum Beispiel, indem wir Blogartikel darüber schreiben, wie großartig wir sind… Quod eram demonstrandum.