Die Geschichte des Übersetzens ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Mit dem ersten Missverständnis will ich (ausnahmsweise) gar nicht anfangen, nämlich dem, dass das Übersetzen permanent dem Dolmetschern gleichgesetzt wird (falsch, denn: Übersetzer schreiben, Dolmetscher sprechen) – aber woher soll jemand, der mit Sprachen nichts am Hut hat, das auch wissen. Das zweite Missverständnis ist, dass die meisten Menschen glauben, wer eine Sprache kann, kann auch Übersetzen.
Dass es dieses Missverständnis wirklich gibt und wozu es führt, habe ich gemerkt, als ich nach dem Abitur einen Sommerjob für die Monate bis zum Studienbeginn suchte. Im großen Konzern meiner Heimatstadt wurde händeringend Hilfe benötigt, und so fand ich mich ruckzuck erst auf einem riesigen Werksgelände und schließlich in einem kleinen, fensterlosen, sehr grauen Büro mit einem großen Tisch und vielen Stühlen drumherum wieder. Der Chef und eine Mitarbeiterin aus der Personalabteilung des Konzernbereichs, der grade ein Joint-Venture mit einem amerikanischen Pendant einging, empfingen mich. Man muss wissen, dass das Ende der Neunziger Jahre war. Damals verlief der Büroalltag im Konzern noch sehr geregelt, geradezu behäbig bis gemütlich. Die Frühstückspause hatte eine in meinen Augen überproportional große Bedeutung. Das Wort Innovation fiel höchstens in der Chefetage und Englisch sprach so gut wie niemand. Im fensterlosen Büro kam nach ein paar einleitenden Erläuterungen die Frage, was ich denn studieren wolle. „Übersetzen, Französisch und Englisch“, antwortete ich. Meine beiden Gegenüber schauten mich verzückt an. „Klasse! Wir brauchen dringend jemanden, der übersetzen kann, wir haben jetzt ganz viel auf Englisch.“ Ich wies vorsichtig darauf hin, dass ich mit meinem Studium ja noch gar nicht begonnen hätte. Ich hatte nur Abitur, Schulenglisch. „Ach, aber wenn Sie das studieren wollen, dann können Sie doch Englisch! Wann können Sie anfangen?“
Und so landeten ein paar Tage später eine amerikanische Richtlinie zu Firmenfahrzeugen und mehrere Präsentationsunterlagen auf meinem Tisch. Ich „durfte“ Gespräche zwischen Führungskräften dolmetschen, einmal sogar ein Vorstellungsgespräch. Und von allen Seiten streckte man mir Telefonhörer entgegen: „Astrid: Englisch!“. Dass ich von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte, interessierte niemanden. Es war schlicht keiner da, der es besser gekonnt hätte. Im Grunde genommen war es, besonders für einen mittelpunktsscheuen Menschen wie mich, der schlimmstmögliche Einstieg in meinen Beruf. Es konnte danach einfach nur noch besser werden…
Aber drei Dinge habe ich damals ein- für allemal gelernt: 1. Ich bin zum Dolmetschen völlig ungeeignet – nach einem Gespräch war ich so durchgeschwitzt, dass mich als Dolmetscherin schon die Ausgaben für die Wechselgarderobe ruinieren würden. 2. Zum Übersetzen braucht man exzellente Sprachkenntnisse, denn erst wenn man zwischen den Zeilen lesen kann und Untertöne versteht, beherrscht man eine Sprache wirklich. 3. Zum Übersetzen braucht man Fachkenntnisse: Mit etwas juristischem Hintergrundwissen hätte ich die Richtlinie damals auch verstanden und mit etwas technischem Know-how die Antworten des Ingenieurs in seinem Vorstellungsgespräch. Die Übersetzung der Richtlinie schaffte es gottseidank nie in den Gebrauch. Ob der Mann eingestellt wurde, weiß ich nicht mehr. Ich kann nur hoffen, es ist nicht an mir gescheitert.