Ach, war das nicht schön, damals …? In der guten alten Zeit, als man den Computer hochfuhr, bis zum Erscheinen des Desktops noch locker Zeit hatte, sich einen, zwei oder drei Kaffee zu machen, dann vor den Bildschirm zurückkehrte, auf das AOL-Icon klickte, sich wieder in die Küche begab und ein üppiges Frühstück verzehrte, während sich der Rechner nun mit einer lustigen Tonfolge langsam, gaaaanz langsam, in das Internet einwählte, das Postfach öffnete und eine weibliche Stimme schließlich optimistisch, mit einem Hauch von Stolz verkündete: Sie haben Post.
Ein Satz, der Vorfreude weckte. Der Überraschungen, Geheimnisse, aufregende Neuigkeiten verhieß. Wer mochte wohl geschrieben haben? Ich habe Post! Jemand hat mir geschrieben! Juchhu!
Manchmal denke ich wehmütig an diese Zeit zurück. Auch wenn ich – vor allem mit technischen Geräten – im Grunde wenig, na gut, seien wir ehrlich, eher überhaupt keine Geduld habe und es durchaus schätze, erst zu frühstücken und danach den Computer einzuschalten, um ganz ohne Wartezeit auf Desktop, Internetverbindung und Postfach zuzugreifen, ‚mal eben schnell‘ meine E-Mails zu checken, und, wenn wir schon bei der Ehrlichkeit sind, eigentlich auch erwarte, dass in einem Zeitalter, in dem Marsreisen geplant und ernsthaft an selbstfahrenden und sogar fliegenden Autos gearbeitet wird, ein Computer gefälligst auf Knopfdruck zu funktionieren und das Internet mir bitte schön immer überall ständig zur Verfügung zu stehen hat. Aber selbst angesichts all dessen denke ich manchmal nostalgisch zurück. Sie haben Post. Ja, alles war langsamer damals. So langsam, dass ich es heute nicht mehr aushalten würde. Aber es war persönlicher. Heute ist mein Postfach still, wenn ich es öffne. Es begrüßt mich nicht mehr. Das ist traurig. Darüber kann mich nicht einmal der lustige Eingangston (das Geräusch eines durch die Luft sirrenden und einschlagenden Pfeils, gefolgt von einem schnarrenden englischen „Message for you, sir“), den ich für das Ankommen neuer E-Mails eingestellt habe, hinwegtrösten. Ich hätte auch die AOL-Stimme von damals einstellen können, aber es ist einfach nicht mehr dasselbe. Denn ansonsten begnügt sich mein Postfach ja damit, mir alle ungelesenen Nachrichten in schnödem Fettdruck anzuzeigen. Direkt, einfach so. Ohne Vorwarnung. Ohne Pop-up-Fenster mit kleinem Briefumschlag, der Spannung weckt. Da kann doch gar keine Stimmung aufkommen. Gelangweilt, aber geübt klicke ich also jeden Morgen die erschreckend vielen Newsletter in den virtuellen Papierkorb, während ich noch denke, ich sollte mir eigentlich wenigstens die Mühe machen, sie abzubestellen. Aber lange bevor ich herunterscrollen und den winzig klein geschriebenen Link zum Abmelden suchen kann, hat der Finger auf meiner Maus die Mail längst ins digitale Nirwana befördert. Von den Nachrichten, die übrig bleiben, sind ein paar wichtig, viel zu wenige interessant, der Rest verteilt sich auf Rechnungen und Werbung. Private Mails sind inzwischen genauso selten wie Postkarten und Briefe, seit es auf dem Handy diesen zugegebenermaßen wahnsinnig praktischen, kostenlosen Nachrichtendienst mit dem grünen Icon gibt (Sie wissen schon, den, der inzwischen einem gewissen Mark Z. gehört, dem Herrscher über das Internet). Ab und zu schafft es eine Spam-Mail durch den Filter, aber auch deren Unterhaltungswert hat irgendwie rapide nachgelassen, seit die Filter besser geworden sind. Von dem spektakulär reichen Onkel aus Afrika, der gestorben ist und mir sein gigantisches Erbe vermachen möchte, höre ich viel zu selten.
Und dann gibt es noch eine weitere Kategorie E-Mails, die das Unpersönliche dieser Zeit auf die Spitze treibt: automatisierte Nachrichten. In der Regel kommen sie von Portalen, auf denen man sich einmal registriert hat, in meinem Fall zum Beispiel Übersetzerportalen, auf denen mich potenzielle Kunden finden können. Das klingt jetzt aufregender, als es ist. Denn gleich die Anrede macht jede Hoffnung zunichte, sorgsam aufgrund meiner einzigartigen Fähigkeiten ausgewählt worden zu sein: „Dear Translator„, heißt es da. Die tendenziell ominösen Absender, deren Signatur oft auf einen Firmensitz in einem nicht gerade für lukrative Bezahlung bekannten Schwellenland verweist, machen sich nicht einmal mehr die Mühe, die Namen der einzelnen angeschriebenen Übersetzer einzufügen. Ich bin nur noch eine von vielen. Genauso ergeht es der Mail jetzt allerdings auch, im Papierkorb meines E-Mail-Programms.
Dann fällt mir etwas auf. Noch während ich schönen Worten und feingeistigen Briefen hinterhertrauere, dämmert mir dunkel der Gedanke, dass man ja immer bei sich selbst anfangen sollte. Wann habe ich eigentlich das letzte Mal eine E-Mail verfasst, die den Namen Post verdienen würde und deren Eintreffen man mit Stolz verkünden könnte? Wann habe ich das letzte Mal liebe Menschen mit interessanten Berichten, beglückenden Zeilen, herzergreifenden Erzählungen versorgt? Ich versinke vor Scham auf meinem Bürostuhl. Ja, sicher, das Leben ist schneller geworden, hektischer. Wer hat schon die Zeit, die Energie? Wir sollten sie uns wieder nehmen, finde ich. Investieren. In schöne Worte. In richtige, altmodische, glücklichmachende Post.
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