Tagesseminare haben zwei entscheidende Vorteile: 1. Sie dauern nur einen Tag. 2. Wenn man nach acht Stunden nach Hause fährt, weiß man mehr als vorher. Grund genug, eine dieser wunderbaren Veranstaltungen zu buchen! In dieser positiven Stimmung begab ich mich letztes Jahr also eines schönen Tages ins herbstliche Frankfurt, um mich näher mit dem Thema „Übersetzen von Geschäftsberichten“ zu befassen. Und als ich abends nach Hause fuhr, wusste ich tatsächlich mehr als vorher: Nämlich, dass ich niemals im Leben Geschäftsberichte übersetzen werde. Obwohl, nein … eigentlich wusste ich das schon zehn Minuten nach Seminarbeginn. Also, im Grunde begannen meine Zweifel mit dem Austeilen des Hand-outs, aber ich war ja positiv gestimmt. Damit war es allerdings vorbei, als die erste Bilanz an die Leinwand geworfen wurde und die Ausführungen des Dozenten mit jedem Satz nur noch mehr Fragezeichen in meinem Kopf produzierten. Schlagartig wurde mir klar, dass Tagesseminare auch einen ganz entscheidenden Nachteil haben: Sie dauern einen ganzen (langen) Tag!
Die regen und interessierten Wortbeiträge der anderen Teilnehmer, die an Konsolidierungsrücklagen, Nominalwerten und Wechselbürgschaften im Gegensatz zu mir ganz offensichtlich nichts Befremdliches fanden, trösteten mich auch nicht gerade. Ganz offensichtlich war ich die einzige Wirtschaftsnull in diesem Raum. Damit war dann zumindest das Motto meines Tages gefunden: Bloß nicht auffallen!
Ich brauchte also etwas, worauf ich meine Konzentration lenken konnte. Wann immer ein englisch-deutsches Vokabelpaar oder Begriffserläuterungen jeglicher Art auftauchten, notierte ich, was das Zeug hielt. Alle paar Minuten war ich damit immerhin beschäftigt (über den Sinn der Beschäftigung hüllen wir an dieser Stelle lieber den Mantel des Schweigens – nur so viel: Ein halbes Jahr später löst die brav notierte Definition, dass ein Rechnungsabgrenzungsposten der Kostenanteil ist, der nach dem Bilanzstichtag noch anfällt, nichts als ein dickes, fettes HÄ?! in mir aus). Dazwischen bemühte ich mich nach Kräften, intelligent zu schauen und meine Verzweiflung zu verbergen. Zwei Kaffeepausen und eine Mittagspause waren angekündigt. Die restliche Zeit war … lang. Unterteilt wurde sie nur vom rhythmischen Klackern und leisen Quietschen des Zollstocks, den der Vortragende in Ermangelung eines Laserpointers von der Organisatorin in die Hand gedrückt bekommen hatte und nach anfänglich verdutztem Blick dann doch recht schnell adoptierte. Das antiquierte Messwerkzeug bot ja auch deutlich mehr Möglichkeiten als ein langweiliger Laserpointer. Das Auf- und Zuklappen ist zum einen eine zusätzliche Beschäftigung zum Nervositätsabbau, beschäftigt darüberhinaus gleich beide Hände und man kann sich je nach gewünschtem Präzisionsgrad der eigenen Ausführungen auch noch überlegen, wie weit man ausklappen (60, 80 und 100 cm Länge waren übrigens die Favoriten, falls es jemanden interessiert), soll heißen: wie genau man auf eine Stelle an der Leinwand zeigen will bzw. wie imposant der Kreis sein soll, den man beim Zeigen durch die Luft schwingen möchte. Und wenn es nichts zu zeigen gibt, kann man den Zollstock mit beiden Händen fassen und zu einem variablen Winkel formen. Dabei knarzt er dann ganz leise. Es hatte wirklich etwas Befriedigendes. Geradezu etwas Meditatives.
Beim Mittagessen im Restaurant schlug ich mich übrigens tapfer, neben Smalltalk und Gesprächen über amerikanische Präsidenten und solche, die es werden wollen, half auch die erforderliche Konzentration, die das unfallfreie Essen einer asiatischen Suppe (also so einer mit viel Gedöns drin) im geschäftlichen Umfeld verlangt, meine Tarnung nicht auffliegen zu lassen.
Rückblickend betrachtet wäre das eigentlich ein guter Zeitpunkt gewesen, die Qualen abzukürzen und den restlichen Nachmittag sinnvoll, das heißt mit einem ausgedehnten Spaziergang am Main zu verbringen. Da ich aber voll und ganz damit beschäftigt war, meinem Motto treu zu bleiben (ein Ansinnen, das spätestens mit diesem Artikel sein Ende finden dürfte) und die Anzahl der Seminarteilnehmer nun wirklich reichlich überschaubar war, blieb ich. Ich notierte. Ich schaute intelligent. Ich konzentrierte mich auf das Quietschen des Zollstocks. Und überlegte, wie ich das Seminar genannt hätte. Vielleicht: „Konzentrationsübungen mit Konzernabschlüssen“. Oder: „Meditieren mit Mezzaninkapital“. Ach nein, viel besser: „Wenn der Zollstock leise knarzt“.
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